Wenn das Leben andere Pläne hat – von Diagnosen, besonderen Glücksmomenten und pürierten Schokokeksen

„Manchmal muss man im Leben so einiges einstecken, wofür man eigentliche gar keine Tasche hat.“ Vermutlich dachte Aniello Castaldo bei seinem Zitat an Menschen wie Anja Helmis und ihre kleine Tochter Nele. Denn dieser eine Satz beschreibt die Geschichte der kleinen Familie ziemlich treffend. Wenn man Anja Helmis und Nele auf dem Spielplatz trifft, dann wird einem sofort klar, dass die beiden eine ganz besondere Geschichte haben und dass man für diese Geschichte eine sehr große und vor allem stabile Tasche braucht, die nicht nur von der jungen Mutter alleine getragen werden kann, sondern wo viele Menschen mit anpacken müssen. Es ist eine Tasche, die man ab und zu abstellen muss, weil man sonst nicht weiter kommen würde. Doch gerade deswegen beinhaltet die Tasche unfassbar viel Hoffnung, Liebe und auch Vertrauen in das Leben. Nele mit den grünen Kulleraugen hat einen schweren Gendefekt und wir wollten von ihrer Mutter Anja Helmis wissen, wie es beide schaffen, immer wieder ihre kleinen Glücksmomente zu finden.

 

Frau Helmis, „Hauptsache gesund“ ist ja der Standardspruch, wenn man werdende Eltern fragt, was sie sich wünschen. Sehen Sie das auch so oder gibt es andere Wünsche, die Eltern völlig vergessen?

Ich sehe das aus heutiger Sicht genauso. Junge oder Mädchen ist egal, aber ich finde es vollkommen normal, wenn man da zunächst Vorlieben hat. Wenn das Baby aber erst mal da ist, liebt man es – ob Junge, Mädchen oder krank. Aber die Gesundheit wäre für mich heute das Allerwichtigste.

Sie haben drei Monate nach der Geburt die Diagnose Hereditäre-rezessive Methämoglobinämie Typ II für Nele erhalten. Was passierte in diesem Moment mit Ihnen als Mutter?

Das ist sehr schwer zu beschreiben. Ich habe mich in diesem Moment gefühlt wie in einem Vakuum. Mir hat es den Boden unter den Füßen weggezogen, nichts war greifbar und ich habe immer wieder die Worte im Kopf gehabt: „Ihr Kind wird nichts können, nicht einmal lachen“. Ich glaube ganz begreifen werde ich es nie, aber ich habe einen Weg gefunden, damit klarzukommen. Ich habe Nele immer beschützt und geliebt – das hat sich in diesem Moment nicht geändert. Der Verarbeitungsprozess dauert bis heute an und wird mich mein Leben lang begleiten.

Wenn Eltern ihr Baby zum ersten Mal lächeln sehen, sind sie meistens ganz verklärt und genießen einfach den Augenblick. Wann hat Nele das erste Mal gelächelt? Und waren da neben der Entzückung auch Gefühle der Hoffnung?

Da war Nele etwa fünf Monate alt, ich war ganz allein mit ihr, sie lag auf meinem Schoß und hat mich direkt angeschaut und gelacht. Ich war einfach nur glücklich. Es hat mir viel Hoffnung gegeben – und sie lacht heute immer noch so toll. Natürlich hofft man dann auch auf viele andere Sachen, zum Beispiel dass Nele eine Ausnahme ist. Aber man wird immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Ich glaube wir haben Nele durch die individuelle Therapieform mehr Lebensqualität gegeben, als man im Voraus für möglich gehalten hätte. Dennoch bemerkt man immer ein Fortschreiten der Erkrankung. Es ist ein Schwanken zwischen Hoffen und Bangen.

Gab es einen Punkt an dem Sie gesagt haben „Jetzt erst recht!“ und angefangen haben, Schokokekse zu pürieren und der „Diagnose“ zu trotzen?

Ja, solche Situationen gab es viele. Nele hat bis zum dritten Lebensjahr hochkalorische Nahrung aus der Flasche getrunken. Ich habe mich immer gegen eine Magensonde gewehrt, weil eine OP für Nele ein sehr großes Risiko darstellt. Immer wenn es mal schlecht mit dem Trinken lief und ich kurz davor stand, ihr doch eine Sonde setzen zu lassen, hat mich Nele in meinem ursprünglichen Entschluss bestärkt. Schließlich hat sie 2012 bei einer Reha doch Essen gelernt. Ich bin unheimlich stolz und freue mich, dass Nele normales Essen über den Mund zu sich nehmen kann, also auch Schokokekse. Das war wieder ein Stück Lebensqualität mehr und ein Stück Normalität.

Mit Nele hat das Wort „normal“ für mich eine ganz neue Bedeutung bekommen. Man versucht jedes kleinste Ding zu erhalten, denn irgendwann hätte sie es einfach verlernt und würde heute weder trinken noch essen, sondern müsste künstlich ernährt werden. Das war sicher nicht der einfachere Weg, aber die Mühen haben sich gelohnt.

Wo unterscheidet sich Ihre Welt von der anderer Familien?

Ich würde sagen, dadurch, dass ich arbeiten gehe, haben wir auch einen normalen Tagesablauf wie andere Familien. Er ist jedoch strikt durchgeplant und mit sehr vielen Extras verbunden. Wir haben auch mehr Hürden zu bewältigen und ich musste lernen, mir auch mal Auszeiten zu nehmen. Nele ist jetzt 6 Jahre alt und hat immer noch den Pflegeaufwand eines Säuglings.

Mein Tag beginnt morgens schon um 5:25 Uhr und wenn Nele um 19.00 Uhr ins Bett geht, kommt der Haushalt und dann erst ich. Wenn ich Glück habe, wird die Nacht gut. Es ist körperlich und psychisch anstrengend, aber ich habe mir vorgenommen, den Alltag mit Nele zu bewältigen. Allerdings habe ich auch Phasen, da ist der Akku einfach leer. An dieser Stelle möchte ich einmal sagen, dass pflegenden Angehörigen viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte – egal ob man Kinder oder Eltern pflegt. Es ist knochenhart und man kommt oft an seine Grenzen. Das Einzige, das einem da Kraft gibt, ist die Liebe zu dem gepflegten Menschen. Ich war 29 Jahre alt als ich Nele bekam und ich musste viele Träume und liebgewonnene Dinge aufgeben. Ich habe im Grunde ein ganz neues anderes Leben begonnen.

Was gibt Ihnen Kraft und treibt Sie an und was zehrt an Ihren Kräften?

Kraft geben mir Nele und mein Freund. Dagegen sind Ärger mit Behörden und Krankenkasse für mich ganz schlimme Dinge, vor denen ich große Angst habe. Im Moment mache ich mir Sorgen darum, dass die Einschulung in diesem Sommer klappt. Das ist sehr nervenaufreibend.

Wo gehen Sie gemeinsam hin, um Spaß zu haben?

Wir gehen sehr oft in den Erfurter Zoo oder auf den Spielplatz. Im Moment spielt Nele am liebsten auf dem Platz im Brühler Garten oder nutzt das Spielgelände im Kindergarten. Oft kuscheln wir auch einfach auf dem Sofa zu Hause und verbringen generell viel Zeit miteinander.

Was fehlt Ihnen in Erfurt in Bezug auf die Freizeitaktivitäten mit Nele?

Mir fehlt eine Schaukel für Kinder wie Nele. Sie liebt es zu schaukeln, aber sie braucht eine Nestschaukel. Wenn mal Geld übrig sein sollte, bekommt sie eine in unserem Garten. Und wir wünschen uns für Erfurt Karussells, die man mit Rollstühlen benutzen kann.

Nele benutzt einen sogenannten Talker, also einen Computer, der für sie spricht. Wie gestaltet sich die Kommunikation mit so einem Gerät?

Der Talker ist echt toll. Er wurde durch den CJD-Kindergarten „Die kleinen Europäer“ gefördert, in den Nele geht. Ihre Erzieherin spricht gemeinsam mit Nele auf den Talker. Sie erzählen, was Nele im Verlauf des Tages erlebt hat und ich spreche mit ihr über das, was wir zu Hause gemacht haben. Das kann sie dann im Kindergarten im Morgenkreis erzählen. So kann ich den Kindergartenalltag von Nele verfolgen und sie hat auch gelernt, den Talker selbst zu bedienen.

Wie sieht der Kindergartenalltag für Nele aus?

Hier hat der Kindergarten ganz tolle Arbeit geleistet. Nele ist gemeinsam mit ihrer 1:1 Betreuung voll in den Kindergartenalltag integriert. Manchmal muss man auf das eine oder andere zusätzliche Bedürfnis eingehen, aber dank der Betreuung nimmt sie an allen Aktivitäten teil.

Wo verbringen Sie mit Nele den Urlaub und ist dieser Urlaub eine Herausforderung oder auch Erholung?

Wir verbringen den Urlaub im Kinderhospiz Leipzig. Dort ist es Erholung pur, weil ich durch Krankenschwestern Unterstützung habe. Ich würde sehr gern einen „normalen“ Urlaub mit ihr machen, aber ich glaube, dass ich danach nicht erholt wäre und zudem muss man erst einmal einen Ort finden, wo man alles bekommt was man braucht – zum Beispiel das Pflegebett.

Ich war im vergangenen Jahr im September eine Woche mit meinem Freund in Griechenland. Nele war während dieser Zeit mit der Oma im Kinderhospiz. Das war für mich 100 Prozent Erholung, aber ich hatte ein ganz schweres Herz, ohne Nele in den Urlaub zu fliegen, denn normalerweise nimmt man sein 6-jähriges Kind mit. Das ist sehr schwer für mich.

Alle reden von Inklusion, doch wie geht man hier in Erfurt im Alltag auf Sie zu?

Inklusion muss man sich erkämpfen – auch hier in Erfurt. Beim Thema Kindergarten habe ich durch das CJD Erfurt und das Sozialamt Inklusion erfahren. In anderen Kindergärten wurden wir abgelehnt. Aber wenn man eine barrierefreie Wohnung braucht, hat man gar keine Hilfe und das finde ich echt schlimm. Es gab so viele Momente, in denen ich allein dastand und keinen Ausweg gesehen habe. Von Inklusion reden alle, aber keiner hat einen Plan, wie es umgesetzt werden soll.

Welche Angebote oder Unterstützungsleistungen gibt es?

Es gibt die Möglichkeit der 1:1 Betreuung im Kindergarten oder in Schulen und man hat in vielen öffentlichen Einrichtungen freien Eintritt. Das find ich schon toll, aber es gibt so viele andere Dinge, bei denen man noch viel mehr auf Unterstützung angewiesen ist. Teilweise hängt davon meine Existenz ab und es ist zu viel, um es an dieser Stelle aufzuzählen.

Nele ist jetzt sechs Jahre alt, stellen Sie sich manchmal noch die Frage „Warum wir?“

Ehrlich gesagt ja, obwohl es keinen Sinn macht. Aber der Verarbeitungsprozess wird eben ein Leben lang anhalten und da gibt es gute und schlechte Tage. Manchmal will ich es nicht begreifen, besonders wenn ich in Neles schöne klare, grüne Augen schaue. Die Frage wird mich einfach immer begleiten.

Inwieweit hat sich Ihr Erwartungshorizont bezüglich Ihrer Zukunftswünsche durch Nele verändert?

Ich habe viele Ansichten in meinem Leben geändert. Ich habe gelernt, dass man im Leben nicht erwarten sollte, sondern hoffen. Ich denke nicht mehr „Was wird mal kommen?“ Ich lebe mehr im Hier und Jetzt. Ich habe aber auch gelernt, was es heißt, Existenz- und Zukunftsängste zu haben. Und ich bin selbstloser als früher.

Eltern kommen sofort ins Schwärmen, wenn es um ihre Kinder geht. Was macht Nele zu Ihrer kleinen Heldin?

Nele ist meine absolute Heldin. Das, was wir zwei erlebt haben, wird kein anderer nachvollziehen können. Wir haben so viel gemeinsam um Leben und Tod gekämpft. Sie ist nicht einfach nur mein Kind, sondern ein kleiner Mensch, der aus mir einen besseren Menschen gemacht hat.

01.03.2016