Tschüss Genitiv und Konjunktiv – Eine Germanistin auf Abwegen

16.09.2019 CJD Erfurt « zur Übersicht

Personenzentrierte Komplexleistung, Betriebsordnung der Erfurter Werkstätten und den Betreuungsvertrag vom Ambulant Betreuten Wohnen in Leichter Sprache? Kein Problem im CJD Erfurt. Die 24-jährige Germanistikstudentin Alina Saul hat sich genau diesen Herausforderungen während ihres Praktikums im Büro für Leichte Sprache gestellt. Vier Wochen hat sich die engagierte Studentin durch Texte und Illustrationen durchgearbeitet und jede Menge dazugelernt. Grund genug für uns mal genauer nachzufragen, wie es denn so war als Praktikantin im CJD Erfurt.

Wie sind Sie als Germanistin auf die Leichte Sprache aufmerksam geworden?

Im Wintersemester 2018/19 habe ich im Rahmen meines Germanistikstudiums ein Seminar zum Thema „Sprachliche Akzeptabilität“ besucht. In einem Referat haben zwei Kommilitoninnen von mir das Konzept der Leichten Sprache vorgestellt. Als Beispieltexte haben sie uns Märchen in Leichter Sprache gezeigt. Ich war sofort begeistert von dem Konzept und den Möglichkeiten der Leichten Sprache und habe angefangen, mich eingehender mit der Theorie der Leichten Sprache zu befassen.

Aufgrund Ihres Studiengangs beschäftigen Sie sich ja ausschließlich mit Sprache. Wie wichtig erachten Sie Leichte Sprache im Hinblick auf Inklusion?

Dank der Leichten Sprache werden Informationen für eine große Leserschaft zugänglich. Leichte Sprache ermöglicht es, dass sich Menschen, die standardsprachliche Texte nicht verstehen, selbstständig über verschiedene Themen informieren können. Ziel sollte es doch sein, dass sich alle Menschen eine eigene Meinung zu den verschiedensten Themen bilden und ein selbstständiges Leben führen können, ohne auf Hilfe von außen angewiesen zu sein. Leichte Sprache kann meines Erachtens einen wertvollen Beitrag dazu leisten.

Es gibt Autoren, die die Leichte Sprache als einen ästhetikfeindlichen Eingriff in die deutsche Rechtschreibung ansehen oder als dümmliches Deutsch bezeichnen. Was sagen Sie dazu?

Texte in Leichter Sprache sollen standardsprachliche Texte nicht ersetzen. Personen, die Leichte Sprache nicht benötigen, sind nicht gezwungen, Texte in Leichter Sprache zu lesen. Sie können immer auf standardsprachliche Texte zurückgreifen. Insofern empfinde ich die Kritik dieser Autoren als nicht berechtigt. Es mag sein, dass Menschen, die nicht zu den primären Adressaten der Leichten Sprache gehören, diese Texte als sprachästhetisch unschön empfinden. Soll Menschen mit Lernschwierigkeiten aber deswegen der eigenständige Zugang zu Texten verwehrt bleiben?

Leichte Sprache ist eine in Grammatik und Wortschatz reduzierte Variante des Deutschen, aber die Reduktion geht nicht so weit, dass Leichte Sprache agrammatisch wird. Die Rechtschreibregeln werden auch in der Leichten Sprache weitestgehend eingehalten. Leichte Sprache ist eine Variante des Deutschen, wie zum Beispiel ein Dialekt. Ich habe noch nicht gehört, dass Personen Angst davor haben, dass ein Dialekt plötzlich die Standardsprache ersetzt.

Sie konnten sich in den vergangenen Wochen während Ihres Praktikums im Büro für Leichte Sprache austoben. Was hat Ihnen am meisten Spaß gemacht, was ging gar nicht und wo gab es die größte Überraschung?

Eigentlich hat alles Spaß gemacht! Die Übersetzungen waren besonders spannend, da ich viele verschiedene Texte aus ganz unterschiedlichen Bereichen im CJD Erfurt übersetzt habe. Klar, manche Texte stellten eine größere Herausforderung dar, als andere Texte. Die CJD Konzeption zur Personenzentrierten Komplexleistung war nicht ganz so einfach, da ich mich mit diesem Fachbereich vorher noch nie beschäftigt habe.

Aber zu keiner Zeit hatte ich das Gefühl, dass ich einen Text nicht in Leichte Sprache übersetzen kann. Die größte Herausforderung stellte die Übersetzung der Website einer Firma dar, die sich um Strahlenschutz kümmert. Das Thema Strahlenschutz war mir bis dato völlig unbekannt. Vor allem die vielen Fachtermini waren schwer zu übersetzen. Ich habe mich besonders darüber gefreut, dass ich ein eigenes kleines Leichte Sprache-Projekt starten durfte: eine Infobroschüre zum Thema „Zucker“.

In Ihrem ganz persönlichen Leichte Sprache-Projekt geht es um die aktuelle Debatte rund um das Thema Zucker. Wie kam es zu dieser Idee und was erwartet die Leser der Broschüre?

Das Thema „Gesunde Ernährung“ ist im Moment in aller Munde. Es gibt noch nicht viele Informationen zum Thema „Gesunde Ernährung“ in Leichter Sprache und keine über Zucker. Dabei ist ein zu hoher Zuckerkonsum verantwortlich für viele Krankheiten – vor allem für Übergewicht. Laut Weltgesundheitsorganisation essen Menschen in Deutschland pro Jahr rund 35 kg Zucker. Das sind ungefähr 100 Gramm am Tag. Das ist das Doppelte, was die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt. Diese Zahlen haben mir sehr zu denken gegeben. Umso wichtiger ist es, über Zucker und seine Gefahren aufzuklären.

In der Broschüre sollen diese Fragen aufgegriffen werden: Was ist Zucker eigentlich? In welchen Lebensmitteln versteckt sich Zucker, obwohl diese gar nicht süß schmecken? Hinter welchen Namen auf den Produktetiketten verbirgt sich Zucker? Was sind die größten Zuckerbomben? Neben vielen Informationen zum Thema „Zucker“ findet der Leser einige Tipps, wie der tägliche Zuckerkonsum ganz leicht reduziert werden kann.

Die Prüfer für Leichte Sprache haben Ihre Übersetzungen im Beisein von Ihnen auf Verständlichkeit geprüft. War es hilfreich, den Prüfprozess live zu erleben? Und was haben Sie aus diesen Runden für sich mitgenommen?

Es war sehr hilfreich, den Prüfprozess mitzuerleben. Vor dem Praktikum kannte ich Leichte Sprache nur in der Theorie. Ich war mit den Regeln vertraut und wusste, wer die primären Adressaten sind. Mit dem Praktikum habe ich einen Sprung in die Praxis gewagt und mit meinen ersten Übersetzungen völliges Neuland betreten. Ich war mir sehr unsicher, ob das, was ich als Leichte Sprache empfand, auch wirklich Leichte Sprache war. Da haben die Runden mit den Prüfern für mich viel Licht ins Dunkel gebracht. Ich habe Vertrauen in meine Übersetzungen gefasst und konnte so noch besser an die Übersetzungsaufträge herangehen.

Aus den Runden nehme ich mit, wie wichtig Feedback für die Arbeit ist. Von den Prüfern erhält man sofort eine ehrliche Rückmeldung zum Text, sodass man direkt weiß, ob der Text verständlich für die Menschen ist, für die er gedacht ist. Nur dann weiß man, ob die Arbeit, die man macht, gut ist oder nicht. Das kommt sonst im Arbeitsleben immer viel zu kurz – vor allem das positive Feedback.

Hand aufs Herz. Was ist einfacher für Sie, einen Text in Leichter Sprache zu verfassen oder so wie Sie es gewohnt sind mit jeder Menge Genitiv und Konjunktiv?

Für mich als Verfechterin des Genitivs und des Konjunktivs sowie als Liebhaberin der Schachtelsätze, ist es wesentlich einfacher, einen Text mit jeder Menge Genitiv und Konjunktiv zu verfassen. Leichte Sprache ist leicht zu lesen, aber leicht zu produzieren ist sie deshalb noch lange nicht. Ideen müssen mit wenigen und einfachen Worten präzise und möglichst ohne Inhaltsverlust herübergebracht werden. Mit ein wenig Übung bekommt man aber immer mehr Routine im Übersetzen.

Welche Regeln der Leichten Sprache sehen Sie nach Ihrem Praktikum als kritisch an?

Im Prinzip sehe ich keine der Regeln für Leichte Sprache als kritisch an. Alle Regeln haben in der Theorie ihre Berechtigung. Sie lassen sich in der Praxis allerdings nicht immer wie gefordert umsetzen. Zum Beispiel ist die Regel, dass keine Kommata gesetzt werden dürfen, in der Praxis häufig nicht umsetzbar. Wie sollen Bedingungssätze formuliert werden, wenn auch keine Fragen in den Text eingebaut werden dürfen? Gerade bei der Übersetzung von Verhaltensregeln in bestimmten Situationen wird diese Regel zum Problem.

Generell finde ich es kritisch, dass die Regeln in den Regelwerken als „Verbote“ formuliert werden und den Übersetzern häufig keine konkreten Vorschläge an die Hand gegeben werden. Das erschwert die Übersetzung erheblich.

Sie werden der Leichten Sprache treu bleiben und zukünftig das CJD-Team im Büro für Leichte Sprache unterstützen. Was fesselt Sie so an der Übersetzungstätigkeit?


Das Gefühl, etwas zu machen, das anderen Menschen hilft. Außerdem finde ich es sehr spannend, die teilweise sehr komplizierten Satzstrukturen des Deutschen zu entwirren und sie einfach und verständlich zu machen. Man muss die Informationen so genau und detailliert wie möglich herüberbringen und dabei darauf achten, dass sie klar und verständlich sind. Das stellt häufig eine große Herausforderung dar.

Kein Übersetzungsauftrag ist wie der andere. Für jeden Auftrag muss eine neue Übersetzungsstrategie überlegt werden. Das wird nie langweilig.

Danke für diese tolle Zusammenarbeit, das Engagement und den unglaublichen Blick über den Tellerrand!