„Ein gelebtes Leben gegen Sieben, die es noch vor sich haben“ – Über das Leben mit einem Spenderorgan

03.06.2022 CJD Erfurt « zur Übersicht

Die 6-jährige Anni hatte als Säugling eine Lebertransplantation. Sie hüpft, rennt und lernt seit über vier Jahren im CJD Kindergarten „Die kleinen Europäer”. Vor einigen Jahren haben wir Annis Eltern Martina und Fabian das erste Mal interviewt. Wir haben über Hoffnung, Ängste und Alltagsmut gesprochen. Bald kommt Anni in die Schule und wir haben mal bei Papa Fabian nachgehakt, was sich in den vergangenen Jahren so getan hat.

Was hat sich seit unserem Interview vor drei Jahren alles verändert?

Wir können ganz klar sagen, dass sich in den vergangenen drei Jahren eine Menge verändert hat. Anni ist ein großes und selbstbewusstes Mädchen geworden. Sie hat viele Freundinnen, trägt eine unglaubliche Lebensfreude in sich und wird von vielen anderen Menschen sehr gemocht.

Gesundheitlich gab es im Zusammenhang mit der Spenderleber zu keiner Zeit irgendwelche Probleme. Seit März dieses Jahres haben wir ihre Medikamente von einer Lösung auf Tabletten umgestellt. Aber auch das hat total reibungslos funktioniert und bedeutet für Anni viel mehr Freiheit und Selbstständigkeit im Alltag.

Wie war die Corona-Zeit für euch? 

2020 war schon sehr einschneidend für uns alle. Wir wussten ja gar nichts über dieses Virus und die Worte eines Professors hallten mir in den Ohren wider, dass es diese Virusinfektionen seien, die eine große Gefahr für unsere Tochter darstellen. 

Als dann im März der erste Lockdown kam, haben wir unseren gesamten Tagesablauf auf den Kopf gestellt, damit wir sie vor einer Infektion schützen konnten. Bei jedem noch so kleinen Infekt haben wir die gesamte Wohnung in Quarantäne-Bereiche aufgeteilt. Wir haben jedoch recht schnell begriffen, dass dies kaum praktikabel ist. Irgendwann haben wir besser verstanden, wie das mit diesem Virus alles zusammenhängt und haben durch viele Hygienemaßnahmen viel Sicherheit für unser Familienleben gewonnen.

2021 haben wir mit jedem Tag endlich auf den Impfstoff hin gefiebert. Für uns war das damals ein großer Lichtblick, nicht nur uns selbst, sondern vor allem unsere Tochter schützen zu können.

Ich erinnere mich gut an den Juni 2021, als wir uns zum ersten Mal mit vielen befreundeten Familien wiedergetroffen haben und eine richtige Gartenfeier mit Tanz und Musik veranstaltet haben. Endlich waren wir alle geimpft und fühlten uns frei. An diesem Tag haben wir uns erstmals wieder richtig wohl gefühlt.

Leider ging es mit der Delta-Variante im Herbst so schnell, dass sich Anni im November erstmals mit Corona infizierte. Meine Frau und ich waren extrem angespannt. Die ersten zwei Tage ging es Anni auch wirklich schlecht. Das Fieber war hoch, sie hat vor Erschöpfung fast nur geschlafen und wir haben uns kaum gewagt, sie aus den Augen zu lassen. Unsere Ärzte aus Hannover waren damals eine wichtige Stütze, weil sie uns durch die Telefonate viele Ängste nehmen konnten. Nach wenigen Tagen ging es ihr dann zum Glück schon besser. Im März 2022 hat es Anni auch nochmal erwischt. Aber das war deutlich unauffälliger.

Dieses Jahr soll Anni im Rahmen einer Studie mit dem Impfstoff von BioNTech geimpft werden, um zu erforschen, ob der immungeschwächte Körper eine Immunität entwickeln kann.

Bald ruft die Schule. Wie war für euch rückblickend die Kindergartenzeit im CJD?

Im CJD Kindergarten haben wir stets eine tolle Zusammenarbeit mit den Pädagog*innen erfahren. Ich kann mich an kaum einen Tag erinnern, an dem Anni nicht voller Freude erzählt hat, was sie wieder gemacht hat. Egal ob Tanzgruppe, Musikschule, Theaterprojekte, Adventsmarkt oder Vorschule. Es waren immer tolle Projekte, an denen alle Kinder gerne teilgenommen und mit Stolz davon berichtet haben. Klar war es die vergangenen zwei Jahre unter all den Corona-Maßnahmen etwas schwerer für uns, immer eine gute Anbindung zu haben. Auch für die Kids war es eine besonders schwere Zeit. Viele Freund*innen von anderen Gruppen nicht mehr besuchen zu können, im Garten gemeinsam zu toben oder einfach unbeschwert durch die Gänge zu laufen, war oft Thema in unseren Gesprächen. Jetzt allerdings atmet alles wieder auf und wir freuen uns, dass unsere Tochter die letzten Wochen dieser spannenden Vorschulzeit noch uneingeschränkt erleben darf.

Anni ist ja nun größer und sicherlich auch bewusster geworden, was ihre Geschichte angeht. Wie geht sie damit um?

Sie weiß eigentlich alles darüber und manchmal packt sie selbst die Fotoalben aus und lässt sich die Geschichte von damals erzählen. Mein Eindruck ist, dass sie über ihre Besonderheit bestens informiert ist. Was wir nicht wahrnehmen, ist eine Beeinträchtigung ihres Selbstbewusstseins. Es ist eher im Gegenteil so, dass sie ausgesprochen selbstbewusst und stark damit umgehen kann. 

Ist die Spenderleber oft Thema?

Selbstverständlich ist das Thema für uns immer auf die ein oder andere Weise präsent. In den vergangenen Jahren haben wir alle gelernt, deutlich mehr den Fokus auf das Hier und Jetzt zu legen. Damit ist es vorrangig dann Thema, wenn Arzttermine anstehen.

Eigentlich ist es doch jetzt Annis Leber, oder?

Das ist wohl die Frage, die sich am schwierigsten beantworten lässt. Letztendlich ist es maßgeblich, welchen Bezug sie zu ihrer neuen Leber entwickelt. Im Sprachgebrauch unserer Tochter ist es ganz klar ihre Leber.

Geht Anni offen mit dem Thema um, wenn sie von anderen Kindern darauf angesprochen wird?

Das ist ganz unterschiedlich. Grundsätzlich geht sie sehr sachlich mit dem Thema um. Doch wir bemerken, dass die häufigen Fragen anderer Kinder auch nicht spurlos an ihr vorbeigehen. Sie kann jedoch gut verorten, wie eine Nachfrage an sie herangetragen wird. Ist die Frage eher kindlich und unbeholfen formuliert („Hä, was hast du denn da?“) antwortet sie so schnell, bestimmt und kurz, dass weitere Nachfragen meist ausbleiben. Da ist sie wirklich ein toughes Mädchen geworden. Spürt sie jedoch, dass ihr Gegenüber ein offenes Interesse an der Geschichte hat, erzählt sie meist sehr genau davon.

Anni kommt bald in die Schule? Wird sich ihr Schulalltag von dem anderer Kinder unterscheiden?

Sie wird durch die Kontrolluntersuchungen ein paar wenige Fehlstunden und Fehltage haben. Das war es jedoch schon.

In der Schweiz wurde vor Kurzem die Widerspruchslösung zur Organspende eingeführt. Spanien hat dieses Gesetz bereits 1997 beschlossen. Was wünscht ihr euch für Deutschland? Und könnt ihr die Ängste und Argumente dagegen verstehen?

Meine persönliche Meinung dazu ist sehr klar für eine Widerspruchslösung, wie sie in anderen Ländern erfolgreich praktiziert wird. Sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, sollte auf jeden Fall eine Bürgerpflicht sein. Der Wille und die Entscheidung müssen aber in jedem Fall freiwillig bleiben. Religiöse Gründe, die gegen eine Organspende sprechen, kann ich schon nachvollziehen. Doch daneben stehen oft unbegründete Skepsis oder einfach nur die Trägheit, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Leider gibt es auch immer häufiger Mythen und Falschinformationen im Internet zu lesen. Ich denke die vergangenen Jahre haben die Ausgangslage für die Organspende eher verschlechtert. 

Grundsätzlich wage ich zu behaupten, dass jeder, der einmal eine Transplantationsstation besuchen konnte, sich definitiv für die Organspende aussprechen würde. Leider geht das logischerweise nicht und Menschen müssen Berichten, wie diesem, vertrauen. Ein gelebtes Leben gegen Sieben, die es noch vor sich haben – das macht doch Hoffnung und gibt auch dem Tod einen Sinn. Am Ende muss jeder für sich entscheiden, was der richtige Weg ist. Du musst nur wissen, dass es nicht darum geht, dir etwas wegzunehmen, sondern das Allergrößte zu schenken – das Leben.