Die Leichte Sprache ist dem Genitiv sein Tod – Oder etwa doch nicht?

04.01.2023 CJD Erfurt « zur Übersicht

Die Leichte Sprache ist ein tolles Konzept. Sie verhilft zu mehr Barrierefreiheit, indem sie Texte für eine überaus heterogene Zielgruppe verständlich aufbereitet. Übersetzer und Übersetzerinnen arbeiten meistens nach einem Ratgeber für die Erstellung von Leichte-Sprache-Texten. Kurze Sätze, einfache Wörter, Präsens – das alles macht schon irgendwie Sinn. Und doch wurden die meisten Regeln intuitiv konzipiert, sie sind wenig präzise und empirisch fundiert sind sie auch nicht. Eine dieser Regeln ist die der Genitivvermeidung. Es wird empfohlen, den Genitiv durch einen „von“-Satz zu ersetzen: Aus „das Haus des Lehrers“ wird „das Haus von dem Lehrer“. Klingt ja erstmal nicht schlecht, zumal man damit an den alltäglichen Sprachgebrauch anknüpft. 

Allerdings ist diese Ersetzung nicht immer möglich. So kann es zum Beispiel zu Mehrdeutigkeiten kommen: „das Buch des kleinen Häwelmann“ versus „das Buch von dem kleinen Häwelmann“ – handelt das Buch nun vom kleinen Häwelmann oder hat der kleine Häwelmann das Buch geschrieben? Die Ersetzung des Genitivs kann das Verständnis unter Umständen also auch beeinträchtigen. Neben dieser Tatsache spielt auch die Ästhetik eine Rolle: Ein kindlicher oder im negativen Sinne simpel wirkender Sprachstil soll natürlich auch in der Leichten Sprache vermieden werden. 

Aber verstehen Menschen mit Lernschwierigkeiten den Genitiv wirklich so schlecht? Dieser Frage ist Studentin Juliane Wettmann in enger Zusammenarbeit mit dem CJD und dem CWE nachgegangen. In ihrer Masterarbeit an der Uni Erfurt hat sie sich mit der Sinnhaftigkeit der Genitivvermeidung in Leichte-Sprache-Texten auseinandersetzt. Sie hat ein Experiment entwickelt, an dem 37 Menschen mit Behinderungserfahrungen teilgenommen haben. Der Fokus lag auf dem possessiven Genitiv, der eine Zugehörigkeit bzw. einen Besitz anzeigt. Die Teilnehmenden lasen insgesamt 32 Sätze, eine Hälfte bestehend aus Genitiv-Sätzen, die andere Hälfte bestehend aus „von“-Sätzen. Überprüft wurde das Satzverständnis für beide Varianten jeweils mit einer Single-Choice-Aufgabe: Auf einen Satz folgt stets die Frage „Wer ist der Eigentümer von …?“

Die Antworten der Teilnehmenden wurden nach richtigen und falschen Entscheidungen kodiert und statistisch ausgewertet. Es zeigte sich kein statistisch signifikanter Vorteil für eine der beiden Darstellungsformen. Das heißt, dass der Genitiv genauso gut verstanden wurde wie seine Alternative mit „von“. Und was kann man daraus nun schließen? „Nun, da auch schon in der Vergangenheit in einem interessanten Projekt zum Thema Leichte Sprache im Arbeitsleben der Universität Leipzig herausgefunden werden konnte, dass der Genitiv keine solchen Verständnisprobleme auslöst, wie man ursprünglich annahm, sehe ich meine Arbeit als weitere Bestätigung, dass der Genitiv in der Leichten Sprache nicht gänzlich vermieden werden sollte. Der besitz- bzw. zugehörigkeitsanzeigende Genitiv kann also getrost verwendet werden, die Regel ist nicht generell haltbar“, erklärt die Linguistikstudentin Juliane Wettmann.

Aus der Studie ergibt sich eine spannende Erkenntnis für die zukünftige Übersetzungsarbeit im Büro für Leichte Sprache im CJD Erfurt. Dr. Nancy Brack, Leitung des Büros für Leichte Sprache, ist glücklich über derartige Synergieeffekte mit Studierenden und Praktikanten. „Derartige Projekte zeigen immer wieder, dass neue Impulse wichtig sind. Nur dank des frischen Windes von außen, können wir uns im CJD weiterentwickeln und neue Ideen entstehen lassen“, erklärt Nancy Brack.

Solch eine wissenschaftliche Überprüfung müsste in Zukunft zu jeder existierenden „Regel“ der Leichten Sprache geschehen. Wünschenswert ist dafür zum einen das Einbeziehen von Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftlern und zum anderen die enge Zusammenarbeit mit der Zielgruppe der Leichten Sprache. „So kann die zukünftige Forschung zu einem immer barrierefreieren Zugang zu Informationen mit hohem Standard sowie der weiteren, textsortenübergreifenden Etablierung und Anerkennung der Leichten Sprache beitragen“, resümiert Studentin Juliane Wettmann.