Gott fährt mit

Nicht absteigen trotz Gegenwind

Vermutlich kennt das jeder von uns… wir schauen oft auf zu Menschen, die uns inspirieren, Kraft geben oder große Dinge bewirkt haben. Wir lesen Biografien und Lebensgeschichten, die uns tief im Herzen berühren, begeistern, antreiben und unseren eigenen Jammerpegel nochmal überdenken lassen. Wir ziehen den Hut vor Menschen, die aus Schicksalsschlägen neuen Mut zum Weitermachen gewinnen – kurz gesagt wir bewundern still die Menschen, die immer wieder aufstehen, weitergehen und wachsen anstatt zu zerbrechen. Und manchmal ist genauso ein Mensch ein Kollege, den man täglich sieht, der einem jeden Morgen freundlich ins Gesicht lächelt und der immer für einen Spaß zu haben ist. Glauben Sie nicht? Dann lesen Sie einfach weiter und lassen sich von den Lebensspuren von Dietrich Merker, einem Kollegen aus den Erfurter Werkstätten, anregen, einfach dankbar zu sein, für das, was jeder von uns seinen Lebensweg nennen darf.


Der Anfang

29. August 1999, 16:15 Uhr: An der Einmündung einer Straße stehend beobachtete ich den Verkehr und biege mit meiner MZ ETZ 250 links ab. Dabei übersehe ich ein parkendes Auto. Zu spät zum Bremsen. Mein Knie rammt sich ins linke Rücklicht: Trümmerfraktur des Kniegelenks.

Kurz zuvor – im Juni – hatte ich per Gerichtsbeschluss das Sorgerecht für meinen 7-jährigen Sohn erhalten. Unsicherheiten setzten sich fest, wie es weitergeht im Leben. Ich war alleinziehend und dachte: Verliere ich mein Kind jetzt wieder, wo ich es doch gerade gewonnen habe? Eine Sicherheit hatte ich: nämlich dass ich ein „Krüppel“ bleiben würde.

Mit den Folgen leben

Vier Jahre regelmäßiger Krankenhausaufenthalte folgten – Jahre mit Schmerz und ohne Hoffnung auf Besserung. In dieser Zeit veränderte sich mein gesamtes Umfeld. Alte Freunde kamen nicht mehr, neue Freunde traten in mein Leben und ich hatte eine Entscheidung zu treffen, die mir sehr leicht fiel: Ich ließ mein Kniegelenk versteifen, um die Dauerschmerzen einfach loszuwerden. Da ich weiterhin Motorrad fahren wollte, rüstete ich vor der Operation meine AWO 425 mit einem Beiwagen, einer Fußbremse links und einer Handschaltung rechts um. Als Schlosser fiel mir das nicht schwer. In diesen Jahren 1992-2003 kam jedoch noch etwas Entscheidendes hinzu: die Suche nach neuen Lebensinhalten. Mit einem Freund, der Pfarrer wurde, setzte ich mich manches Mal zusammen und überdachte meine weltliche Sicht, fragte nach der Bibel, dem Glauben und Jesus.

Der Versuch wieder auf die Beine zu kommen

Zwischen 1996 und 1997 suchte ich neue berufliche Perspektiven und wurde fündig. Im Berufsförderungswerk Oberhausen erhielt ich 1998-1999 eine Ausbildung zum Arbeitspädagogen. Das war auch die Zeit meiner ganz persönlichen Veränderung: Alles Bisherige – Ansichten, Einstellungen und Meinung sowie Lebensinhalte – stellte ich auf den Prüfstand. Mein Sohn wurde in dieser Zeit suchtkrank – illegale Drogen.

Mein Pfarrerfreund organisierte 1998 einen ersten Bikergottesdienst. Ich half bei der Organisation mit. Das war neu und bereitete mir Freude – und dabei ist es bis heute geblieben. In dieser Zeit lernte ich Holger Janke kennen, der für das Seelsorgetelefon „Bikers-Helpline“ warb. Es entwickelte sich eine Freundschaft, die bis heute anhält. Ich fuhr nun auch regelmäßig zur MOGO Hamburg, einem Event, bei dem sich ca. 30.000 Motorradfahrer um den „Michel“, der Hauptkirche Hamburgs versammeln, um Gottes Wort zu hören.

Nach der Ausbildung bekam ich sehr schnell Arbeit. Wurde aber im Jahr 2000 wieder arbeitslos. Die Suchterkrankung meines Sohnes hatte ihre Spuren in all meinen Lebensbereichen hinterlassen: Angstzustände, Panikattacken, Depression. Durch die Arbeitslosigkeit geriet ich in die Mühlen des Jobcenters – in die Arbeitslosenhilfe, später in Hartz IV. Das Arbeitslosengeld war in den Jahren zuvor aufgebraucht worden, den Jahren der Krankheit und Berufsfindung.

Arbeiten heißt nicht gleich Geld verdienen

Um mich aus dieser Situation heraus zu arbeiten, ging ich zum Blauen Kreuz. Hier erhielt ich Hilfe durch Weiterbildungsseminare, die ich besuchen durfte. Hier erwarb ich das Zertifikat „Ehrenamtlicher Suchtkrankenhelfer“, aber auch die Ausbildung zum Arbeitspädagogen half mir. Ich gewann Selbstvertrauen zurück und wurde selbstsicherer im Umgang mit Menschen.

Geordnete Verhältnisse und der Weg zu Gott

Bei einem Bikergottesdienst im Frühjahr 2003 fand ich den Glauben an Gott und Jesus Christus. In der Predigt ging es um das Auf und Ab eines Kolbens in einem Motorradzylinder. Vor meinem inneren Auge sah ich das Auf und Ab meines Lebens. Behütete Kindheit, Lebensbrüche, Reparaturversuche. Und dann legte sich eine tiefe Ruhe über mich. Das war der Moment, wo ich mit Gott erstmals so richtig eins war. So fühlte sich für mich der Heilige Geist an. In diesem Moment fragte ich nicht nach naturwissenschaftlichen Erklärungen, ließ diesen Zustand einfach zu und dankte Gott. Die Zeit danach war von einem Gefühl der Zufriedenheit durchdrungen.

Im September 2013 ließ ich mich – natürlich beim Bikergottesdienst – taufen. Mein Sohn fing an, sein Leben wieder in die Hand zu nehmen. Er hatte mehrere Entgiftungen und zwei Langzeittherapien gemacht. Wir fanden durch die Therapiegespräche wieder zueinander, was mein Leben zusätzlich entlastete. Ich konnte den Blick wieder auf andere Interessen lenken. Nun engagierte ich mich auch in der Kirche: übernahm Lesungen zum Gottesdienst, organisierte zwei Mal Motorradfahrer-Gottesdienste mit Gemeindefest in Apolda und arbeitete bei der „offenen Lutherkirche“ ehrenamtlich und als Ein-Euro-Jobber mit. Durch die ehrenamtlichen Aktivitäten und durch die Blau-Kreuz-Vorträge kam mein persönliches Weltbild so langsam wieder ins Lot.

Irgendwann in dieser Zeit fragte mich ein Freund, ob ich nicht interessiert wäre, die Ausbildung zum Notfallseelsorger zu absolvieren. Im Weimarer Land sollte die Notfallseelsorge weiter ausgebaut werden. Natürlich stimmte ich dem zu. Und mit Holger Janke hatte ich Gespräche. Es ging um die Mitarbeit bei Bikers Helpline. Nach längerem hin und her erhielt ich eine Ausbildung zum Telefonseelsorger in Hamburg.

Weiter vertieft wurde dieser Bildungsweg, als ein sehr guter Freund anrief und fragte, ob ich eine Ausbildung zum beratenden/therapeutischen Seelsorger machen wolle. Ich fragte, was das kosten und wie ich nach Langenbernsdorf kommen sollte. „Es ist alles bereit“ war die Antwort. Das Erstseminar schenkte er mir, ebenso wie Unterkunft und Anreise. Aus diesem Erstseminar wurden 3 Jahre. In der Kirche engagierte ich mich nun als Krankenhausseelsorger. Eine Zeit, in der ich viel über Leid, Altern, Sterben, aber auch Genesen und Dankbarkeit lernen durfte. Ich hörte auch auf zu denken, dass es jemals einen „richtigen“ Arbeitsplatz für mich geben würde. Eingerichtet hatte ich mich – nicht in der Arbeitslosigkeit sondern im Ehrenamt. Es war die Zeit, in der ich mein Arbeitslosengeld verdient habe. In all den Jahren davor hatte ich über Ehrenämter versucht, in Arbeit zu kommen. Nun hatte ich so viel zu tun, dass ich keine reguläre Arbeit brauchte. Blaues Kreuz, Notfallseelsorger, Bikers Helpline, Kirchliches Engagement und das Organisieren von Motorradfreizeiten und Motorradgespann-Ausfahrten mit Menschen mit Behinderungserfahrungen nahmen mich voll in Beschlag.

Jetzt ging es mir gut. Nicht finanziell, aber ich hatte Tagesstrukturen, ich war stets beschäftigt und ich wurde dankbar. Dankbar, dass sich Gott meiner angenommen hatte – mich hat stürzen lassen – damit ich sehe, was alles im Leid wachsen und werden kann. Gott sendet Menschen zu mir, die mir helfend unter die Arme greifen. Manchmal sendet er mich zum selben Zweck zu anderen. Dieser Grundsatz ist zu meiner Überzeugung geworden.

Ende gut, alles gut

Und trotzdem war da noch die Sache mit dem Jobcenter: Je mehr ich mich engagierte, umso mehr – so mein Eindruck – wurde ich von meiner „Betreuerin“ drangsaliert. „Bildungsseminare“ wurden angeboten. Hier sollte ich ¼ Jahr lang Bewerbungen schreiben, und mein „Persönlichkeitsprofil“ ermitteln und anderes. Dann wurde die Bürgerarbeit eingeführt. Ich machte mit. 2010 meldete ich mich beim Lebenshilfewerk Weimar/Apolda e.V. für den Bundesfreiwilligendienst an. Dort hatte ich schon vorher 2 Jahre als Produktionshelfer gearbeitet und mir einen guten Ruf erworben. Als „BufDi“ wurde ich mit Kusshand genommen – im Berufsbildungsbereich aber auch als Springer für erkrankte Kollegen in den Arbeitsbereichen.

Und dann wurde mir Anfang September 2013 ein Jobangebot des CJD Erfurt zugesandt. Ich schickte meine Bewerbung hin. Nach 14 Tagen bekomme ich einen Anruf: Hier ist Göhler, Werkstattleiterin des CJD Erfurt. Ich habe Ihren Lebenslauf gelesen. Ich möchte Sie kennen lernen. Das Ende einer Odyssee, die am 29. August 1999 begann, wurde eingeläutet.

Heute

Ein „Krüppel“ bin ich seit Jahren nicht mehr. Ich habe ein Handicap (wie jeder andere auch). Aus dem Blauen Kreuz bin ich ausgetreten. In der Notfallseelsorge und bei Bikers Helpline bin ich weiterhin aktiv. 2015 erhielt ich einen festen Arbeitsplatz beim CJD Erfurt, habe einen PKW gekauft und meine langjährige Lebensgefährtin endlich heiraten können. Motorrad fahren wir weiterhin und Ziele für die Zukunft gibt es auch – und das nicht nur auf der Landkarte.