Zwei Kerzen zum „Lebergeburtstag“ – Und das große Glück der Organspende
Wenn das Leben deines Kindes am seidenen Faden hängt, dann steht die Welt still. Man atmet und der Körper funktioniert, man unterschreibt Papiere, hört Ärzten zu, man redet mit Freunden. Aber im Inneren ist man einfach ganz still und voller Gebete, dass alles ein gutes Ende nehmen wird. Die Geschichte von Anni hat ein gutes Ende genommen, aber nur weil irgendwo Eltern eines anderen Kindes, zu einem Zeitpunkt, als ihre Welt still stand, eine unglaublich selbstlose Entscheidung getroffen haben – „Ja, wir spenden die Organe unseres Kindes.“
Die kleine Anni flitzt im Erfurter CJD Kindergarten „Die kleinen Europäer“ um die Ecke und bremst scharf, als sie um die Kurve fährt. Ihre blonden Haare wehen ungezähmt im Wind und ihre blauen Augen funkeln. Mit lautem Lachen rennt sie zur Rutsche und fegt in einem Affenzahn hinunter. Die pure Lebensfreude strahlt aus der 3-Jährigen und nichts, aber auch gar nichts, lässt einen in diesen Momenten vermuten, dass Annis Start ins Leben alles andere als einfach war.
Die Geburt eines kleinen Menschen ist ein wahres Wunder und für die meisten Eltern ist es selbstverständlich, dass alle Organe reibungslos funktionieren. Wer von uns weiß schon detailliert, wofür unsere Leber zuständig ist und dass man sie mit einer großen Chemiefabrik vergleichen kann? Martina und Fabian Drexler hatten keine Wahl, vor diesem Wissen halt zu machen. Denn in der 11. Lebenswoche ihrer kleinen Tochter erfuhren sie, dass aufgrund der Gelbfärbung der Haut und Augen und der fehlenden Gewichtszunahme nun doch Anlass zur Sorge besteht. Es folgten unzählige Untersuchungen, endlose Tage und schlaflose Nächte in Kliniken mit quälenden Fragen im Kopf. Tag für Tag wich die Lebensenergie aus ihrer kleinen Tochter und der körperliche Verfall schritt unerbittlich voran. Irgendwann stand es fest: einzige Hoffnung Organtransplantation. Woher soll ein Organ kommen? Wie überstehen wir das? Und was ist, wenn nicht rechtzeitig…?
Familie Drexler ist im CJD fest verwurzelt. Die Eltern arbeiten beide als Pädagogen und Tochter Anni besucht den CJD-Kindergarten. Anni ist für uns eine wahre Alltagsheldin und ihre bewegende Geschichte hat uns im CJD Thüringen dazu inspiriert, uns für den Organspendeausweis stark zu machen.
In einem berührenden Interview sprechen Fabian und Martina Drexler (Annis Eltern) über Hoffen und Bangen, was sie im Alltag stark macht und was sie anderen Eltern mit auf den Weg geben.
Irgendwann nach quälenden Wochen war klar, dass Anni eine neue Leber braucht. Hatten Sie einen Fahrplan, wie es in den kommenden Wochen weitergehen wird?
Fabian Drexler: Ehrlich gesagt haben wir uns damit wenig beschäftigt. All die Monate in den Kliniken haben uns so ausgelaugt, dass wir bereit waren, jeden erdenklichen Weg zu gehen. Aber unsere Ärzte haben uns viel Zuversicht gegeben, weil sie stets offen mit den schwierigsten unserer Fragen umgegangen sind. Ich habe stets versucht, auf das Beste zu hoffen, jedoch immer mit dem Schlechtesten zu rechnen. Ich wollte vorbereitet sein. Das ist natürlich reine Utopie. Ich denke, dass es unmöglich ist, sich rational mit dem körperlichen Verfall deines Kindes zu beschäftigen, während du es eigentlich lieber unbeschwert und sicher in deinen Armen wiegen möchtest.
Was geht in einem vor, wenn der alles entscheidende Anruf kommt, dass ein passendes Organ da ist?
Fabian Drexler: Wenn ich heute an diesen Moment zurückdenke, wird es mir jedes Mal eng um die Brust. Ich weiß noch, wie wir uns weinend in die Arme gefallen sind und anschließend kopflos alle Sachen für die lange Klinikzeit gepackt haben. Einerseits hat uns die kurze Wartezeit regelrecht überfahren. Andererseits war es ein starkes Gefühl von Aufbruch und Hoffnung.
Martina Drexler: Ich weiß noch, dass ich mit einem hohen Puls durch die Wohnung gefegt bin und nicht wusste, was ich nun als Erstes machen sollte. Wir riefen unsere Eltern an und teilten mit, dass nun der große Moment gekommen ist. Danach packten wir die Tasche. Zwischendurch versuchte ich, noch etwas Nahrung in Anni zu bekommen, da sie ab 24 Uhr nüchtern sein sollte. Das war recht schwierig, da sie tief und fest schlief. Ansonsten war ich ziemlich aufgeregt, ich hatte keine Angst, ich war glücklich, aufgeregt….wie vor einer großen Überraschung.
Können Sie uns die Tage vom Anruf bis nach der OP kurz beschreiben? Wie haben Sie beide diese Zeit erlebt?
Fabian Drexler: Bereits während wir die Kliniktaschen packten, klingelten unentwegt unsere Telefone. Wir wurden von unterschiedlichsten Stellen, wie unseren Ärzten aus Hannover, dem Krankentransport und Eurotransplant kontaktiert. Wir haben regelrecht die Anspannung all dieser Menschen gespürt.
In der Klinik verzögerte sich dann alles, so dass wir insgesamt 16 Stunden bis zum Beginn der OP warten mussten. Das war mit einem vor Hunger schreienden Säugling absolut kräftezehrend. Als unsere Ärztin und unsere Transplantationsbegleiterin schließlich ins Zimmer traten und uns mitteilten, dass wir Anni nun in den OP begleiten könnten, hat sich ein „Schalter“ bei uns umgelegt. Für diesen Moment verlierst du deine Gedanken, deine Sorgen und das Gefühl wirklich da zu sein. Jeder Schritt war wie in Trance. Bis wir am OP Saal ankamen, wo bereits die Anästhesistin auf uns wartete. Während sie die Narkose vorbereitete, nahmen wir Abschied von unserer Tochter. Als das Narkotikum in ihren Venen brannte, wand sie sich in einem letzten Kampf in unseren Armen, bis sie schließlich ganz ruhig wurde. Und plötzlich gehen die Türen zu. Du stehst da ohne dein Kind. Ohne zu wissen ob du es jemals wieder lebendig in deine Arme schließen kannst. Ganz allein und ohne Gewissheit. Dann läufst du gedankenlos die vertrauten, endlosen Gänge durch die Klinik.
Unsere Transplantationsbegleiterin empfahl uns einfach ins Hotel zu gehen, etwas zu essen und zu schlafen. Das haben wir getan. Bis in den frühen Morgenstunden der Anruf kam. Anni hatte es überstanden und wir durften zu ihr. Den ersten Anblick können wir nur schwer beschreiben. Da liegt zwischen unzähligen Schläuchen, Geräten und Verbänden dein kleines Mädchen. Völlig regungslos. Und dann sitzt du Stunden um Stunden an diesem Bett und das Piepen und Pumpen der Geräte begleitet dich wie ein stetes Mantra, bis sie das erste Mal ihre Augen öffnete.
Martina Drexler: Dann wurde alles anders. Zum ersten Mal sahen wir, wie der Tod aus ihrem Körper wich und das Leben ihren Körper beseelte. Etwas in ihrem Blick war sofort anders. Er war plötzlich so klar. Ihre Augen verloren stetig das tief leuchtende Gelb. Mit jedem Tag wurde ihre Haut rosiger. Unser Kind würde leben. Das war uns ganz sicher. Wir zählten jeden Schlauch und jedes Medikament. Immer etwas weniger. Bereits nach wenigen Tagen wurde Anni aus der Intensivtherapiestation entlassen und wir konnten wieder Tag und Nacht bei ihr sein. Das war großartig.
Das Transplantationsgesetz sieht vor, dass alle Organspenden anonym passieren. Dennoch wissen Sie, dass das Spenderorgan von einem anderen Kind ist. Wie geht man als Eltern damit um?
Fabian Drexler: Es ist Ehrfurcht und Demut. Der Entschluss dieser Eltern ist eine absolut übermenschliche Entscheidung. Das kann man als Eltern fast nicht begreifen. Wir haben von diesem Tag an stets zwei Kerzen in der Kapelle angezündet. Und das tun wir auch heute noch. Weil zwei Leben in unserer Tochter vereint sind und wir dieses Geschenk aus tiefster Dankbarkeit in unserer Familie tragen.
Anni muss mehrmals am Tag auf nüchternen Magen Medikamente nehmen. Gibt es außerdem noch Dinge, die ihr Familienleben von anderen unterscheidet?
Fabian Drexler: Wir haben natürlich jede Menge Nachsorgetermine. Einmal pro Jahr durchlaufen wir alle Spezialisten, um möglichst frühzeitig reagieren zu können. Dann die Tatsache, dass diese Geschichte überall für Aufsehen und Nachfrage sorgt. In der Regel sprechen wir dieses Thema gar nicht mehr so häufig an, wie früher. Besonders wenn wir im größeren Familienkreis zusammenkommen, versuchen wir dieses Thema zu umgehen. Das gelingt nicht immer, weil das Trauma auch bei unseren Familien noch sehr präsent ist. Wir wünschen uns aber trotz allem für unsere Tochter ein Umfeld, dass sie nicht auf diese eine Geschichte reduziert.
Martina Drexler: Und trotzdem möchten wir diesen besonderen Lebensabschnitt ganz bewusst bewahren. Jedes Jahr, am Tag ihrer Transplantation, feiern wir ihren zusätzlichen Geburtstag. Aber auch ganz bewusst nicht mit Geschenken und Party. Etwas bedächtiger, bewusster und näher. Einen „Lebergeburtstag“ für sie, uns und unsere Spenderfamilie.
Was gibt Ihnen als Familie Kraft und treibt Sie an und was zehrt an Ihren Kräften?
Fabian Drexler: Wir schöpfen viel Kraft aus unseren Familien und treuen Freunden, die uns in all der Zeit begleitet haben und noch heute viel Kraft schenken. Das ist unbezahlbar und ein großes Glück, für das wir sehr dankbar sind.
Martina Drexler: Am meisten schöpfe ich die Kraft aus Annis täglichem Lächeln. Ihrem Atem beim Schlafen. Ihrer unermüdlichen Liebe, Quatsch zu machen. Ihrer kleinen Persönlichkeit und ihrer Art und Weise, die Welt zu sehen. Es gibt wirklich nichts Besseres als Kindermund. Und bevor sie sprechen konnte, verzauberte und stärkte sie mich durch ihre bloße Anwesenheit und ihre Augen.
Die Organspende steht weltweit vielfach in der Kritik. Dabei geht es einerseits um gesundheitliche Fragen, andererseits um gesetzliche Regelungen sowie ethische Aspekte. Was möchten Sie Menschen, die unsicher sind, gern bei diesem Thema sagen?
Fabian Drexler: Wir verfolgen mit großem Interesse die politischen Debatten und Versuche, eine neue Lösung zugunsten wartender Patienten zu schaffen. Da gibt es tolle Ideen, Vorschläge und Initiativen, die wir unterstützungswürdig finden. Doch wir verstehen gut, dass dies ein sensibles Thema ist und viele Menschen diese schwer moralischen Fragen belasten. Wir tragen bereits seit vielen Jahren einen eigenen Organspendeausweis mit uns herum, weil wir es erbauend finden, nach unserem Ableben etwas Gutes in die Welt geben zu können. Unsere Tochter lebt, weil es Eltern gab, die in ihrer wohl dunkelsten Stunde eine selbstlose Entscheidung treffen konnten.
Wir haben zu viele leiderfüllte Kinderaugen in der Kindergastroenterologie der Medizinischen Hochschule Hannover gesehen, als dass wir uns dieser Verantwortung entziehen könnten. Daher hoffen wir natürlich durch unsere Geschichte auch darauf aufmerksam machen zu können und sich viele Menschen für einen Organspendeausweis entscheiden.
Gibt es Momente in Ihrem Leben, an denen Sie sich fragen: Warum Anni, warum wir als Familie das alles durchleben mussten?
Fabian Drexler: Ganz am Anfang der Klinikaufenthalte war das so. Du merkst jedoch schnell, dass dich diese Frage nicht weiterbringt. Im Gegenteil, sie lässt dich gnadenlos auf der Stelle treten, bis du in deinem Selbstmitleid ertrinkst. Selbst wenn dir jemand die Antwort auf diese Frage geben könnte: Würde es dir in deiner Lage helfen? Und so haben wir aufgehört zu fragen und unser Schicksal einfach angenommen. Mit allem, was dazu gehört.
Martina Drexler: Wenn wir uns heute mit dieser Frage konfrontieren, wirkt das fast schon aufgesetzt, weil es unserer Lebensphilosophie widerspricht. Wir vertrauen einfach. Das ist nun unser Leben. Unsere Vergangenheit. Unsere Zukunft. Weil wir das so akzeptieren, gemeinsam tragen und weil wir anderen damit Mut geben können. Mit jedem Wort, jeder Begegnung und jeder Tat können wir Menschen Hoffnung und Zuversicht schenken. Vielleicht ist das unsere Antwort auf das Warum.
Was möchten Sie Eltern mit auf den Weg geben, die die gleiche Lebensgeschichte wie Sie teilen?
Fabian Drexler: Durch den Austausch mit anderen betroffenen Elternteilen haben wir schnell erfahren, dass trotz gleicher Diagnose, Behandlung und Therapie die Geschichten doch sehr unterschiedlich sind. Rückblickend können wir anderen Eltern raten: Lernt von euren Kindern. Denn sie zeigen euch, wohin der Weg führt. Während all der Klinikaufenthalte haben wir deutlich gefühlt, dass unsere Nähe und Geborgenheit Anni alles gegeben hat. Wir spürten durch sie, dass dies nun unser gemeinsamer Weg werden würde, egal mit welchem Ausgang und dass wir ihren Schritten folgen würden, nicht umgekehrt.
Martina Drexler: Heute wird dies in unserem Alltag viel deutlicher. Besonders dann, wenn mal wieder ein Termin zur Blutentnahme ansteht und unsere Tochter frohen Mutes in den Behandlungsraum voranschreitet, obwohl sie doch aus Angst eigentlich lieber zu Hause geblieben wäre. Oder wenn sie ihren Freunden im Kindergarten ihre Medizin mit stolzer Brust als etwas Besonderes beschreibt. Das sind diese besonderen Momente, die uns immer wieder versichern, dass sie ihren Weg in dieser Welt gut und sicher finden wird.
Fabian Drexler: All das war nicht immer so und es gibt noch heute diese Tage, an denen Anni unter den Konsequenzen ihrer Krankheitsgeschichte leidet. Das wirft uns alle auch mal aus der Bahn. Doch im nächsten Moment zeigt sie uns wieder, wie selbstverständlich das alles für sie ist und verzaubert uns wieder mit ihrer ungebrochenen Lebensfreude. Wir Erwachsenen stehen uns oft selbst im Weg durch unsere Sorgen, Befürchtungen oder Trauer und vergessen dabei den Moment, das Hier und Jetzt, wahrzunehmen. Kinder denken da anders und wir können allen Eltern, selbst in den schwierigsten Augenblicken, nur dazu raten: „Lasst euch auf diese Reise mitnehmen!“
01.06.2019