Vollkommen selbstbestimmt und mündig – Gespräche zu Wünschen und Wertvorstellungen von Menschen mit Behinderungserfahrungen

13.10.2017 CJD Erfurt « zur Übersicht

Es wird ruhig im Hörsaal, als Hendrik Allenstein vor das Plenum kommt. Mit Spannung lauschen alle im Hörsaal Anwesenden, als er von seinem Leben im eigenen Wohnraum zu erzählen beginnt. Seit 30 Jahren lebt er in einer barrierefreien Wohnung in der Marburger Innenstadt. Viel Überzeugungsarbeit war damals bei seinen Eltern notwendig, bis er in die eigenen vier Wände ziehen konnte. Doch die Bemühungen trugen Früchte.

Allenstein sitzt im Rollstuhl. Sein Wortschatz ist riesig, jedoch hat er Probleme diesen zu verbalisieren. Eben weil er sich nicht so deutlich artikulieren kann, diagnostizierten ihm Ärzte in der Kindheit eine angebliche „geistige Behinderung“. Das dem nicht so ist, zeigt der heute 57-Jährige in seinen Texten. Er weiß sehr wohl, sich auszudrücken. Dafür stehen ihm technische Kommunikationsmittel, Alltagsbegleiter oder eine Buchstabentafel, auf der er die jeweiligen Wörter zeigen kann, zur Verfügung. „Ich glaube, wenn man immer nur die geistigen Trampelpfade abgeht, kommt man im Leben nicht weiter“, heißt es in einem seiner Texte.

Hendrik Allenstein ist ein voranschreitendes Beispiel für selbstbestimmtes Leben allen Diagnosen zum Trotz. Er lebt in einer barrierefreien Mietwohnung in Marburg und kommt ohne gesetzlichen Betreuer aus. Sieben Helfer unterstützen ihn bei den Alltagsaufgaben, die aufgrund der körperlichen Einschränkungen nicht möglich sind, wie kochen oder waschen. Den Rest erledigt er selbstständig und ist damit überaus glücklich. Seine Erfahrungen mit diesem selbstbestimmten Alltag teilt er am 5. Oktober zur Veranstaltung „Leben. So wie ich will!“, einer Fachtagung in Kooperation von Universität Erfurt und CJD Erfurt, bei der die Bedürfnisse und Wünsche von Menschen mit Behinderungserfahrungen gesammelt werden sollen.

„Ich bin ein selbstbestimmter Mensch. Ich treffe meine eigenen Entscheidungen. Ich lege mir meine eigenen Ziele“, sind einige der leitenden Worte des Fachtages. Mit diesen und anderen initiierenden Worten spricht sich Ivonne Höhn, Fachbereichsleiterin Wohnen und Begleiten, dafür aus, Menschen mit Behinderungserfahrungen ihre oftmals verkannte Mündigkeit zuzusprechen. Ändern wird sich das zukünftig unter anderem mit dem Bundesteilhabegesetz. Es fördert die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungserfahrungen und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und wirkt damit gleichsam Benachteiligungen entgegen. Eines der großen Ziele ist es, dass Menschen mit Behinderungserfahrungen selbst entscheiden, in welchen vier Wänden sie leben möchten. Wie die Vorstellungen der Adressaten sind, soll in ebenjener Fachtagung erfasst werden, denn „im Alltag fehlt es uns manchmal, intensiv mit ihnen zu reden“, so Höhn. An diesem Tag kommen dazu 104 Teilnehmer zu Wort.

Nach dem Vortrag von Hendrik Alleinstein und einer Besinnung vom ehemaligen Jugenddorfleiter Günter Steffenhagen, beginnen um 10 Uhr die Workshops. Es geht um Selbstbestimmung, Wohnwünsche und das Bundesteilhabegesetz im Detail. Auf Flipcharts halten die Teilnehmer in Kleingruppen fest, wo, wie und mit wem sie künftig leben möchten. Nach der Mittagspause in der Mensa auf dem Universitätscampus geht es in die zweite Workshoprunde. Hier werden wahlweise eigene Traumwohnungen gestaltet oder wird über Liebe und Sexualität gesprochen.

Gegen 15 Uhr beginnt die Auswertung der Workshops im Hörsaal 1 der Universität. Dabei offenbaren sich verschiedene Vorstellungen vom eigenständigen Leben. Der eine Teilnehmer möchte lieber in der Stadt, der andere auf dem Land leben. Viele wohnen gerne mit einem Partner zusammen, andere lieber in einer WG oder allein. Die selbstgestalteten Traumwohnungen aus der zweiten Workshoprunde sind geräumig und detailreich. Mithilfe von Bastelmaterialien entstanden plastische Schuhkarton-Bauwerke. Im Workshop zu Liebe und Sexualität ging es um intime Vorstellungen, was dabei erlaubt und was nicht erlaubt ist, welche Stellen schön zu berühren sind und welche weniger. Mit einem Teilnahmezertifikat verlassen die Fachtagungsteilnehmer den Hörsaal. Symbolisch wird ein Wunschbaum gepflanzt. Mit ihm sollen Eigenverantwortung und Selbstbestimmung symbolisch wachsen.

Die Ergebnisse aus der Fachtagung nimmt das Projektteam als Handlungsrahmen und Anregung mit. Es werden weitere themenzentrierte Veranstaltungen folgen, um noch mehr Erfahrungen und Anregungen zu sammeln. „In der aktuellen Debatte bezüglich der Ausgestaltung des Bundesteilhabegesetzes zerbrechen sich sogenannte Experten die Köpfe, wie Menschen mit Behinderungserfahrungen leben und wohnen wollen. Unsere Erfahrung bei der Fachtagung zeigt aber, dass es lediglich Fragen an die richtigen Adressaten zu stellen bedarf. Diese Experten in eigener Sachen liefern mit ihren detaillierten Vorstellungen und Antworten den besten Input für den Diskurs“, so Silvio Schwarz vom Projektteam der Veranstaltung. Wie gut sich die in dieser Fachtagung geäußerten Vorstellungen, Wünsche und Ziele realisieren lassen, zeigt schon jetzt ein Modellprojekt innerhalb des CJD Erfurt: Die ehemalige Außenwohngruppe im Erfurter Storchmühlenweg wurde ambulantisiert und ermöglicht den dort lebenden Menschen freie Gestaltungsmöglichkeiten ihres Alltags.


Stimmen von Tagungsteilnehmern:

„Selbstbestimmung heißt für mich, dass ich alleine einkaufe. Dass ich meine eigenen Sachen planen kann.“ Uwe H.

„Im Kühlschrank meiner Traumwohnung sollen nur gesunde Sachen sein, weil ich derzeit am Abspecken bin.“ Ina M.

„Der Workshop zu Liebe und Sexualität hat mir gut gefallen. Wir haben über Stellen am Körper gesprochen, die man gerne berührt, haben uns eine Gummipuppe angeguckt. Den Workshop würde ich wieder mitmachen.“ Torsten K.

„Ich möchte in Zukunft am liebsten mit meinem Partner in einer gemeinsamen Wohnung zusammenleben.“ Sabine S.