Ein Gentleman geht seinen eigenen Weg

21.03.2017 CJD Erfurt « zur Übersicht

Radiomusik tönt durch Montagehalle 3. An verschiedenen Stationen wird eifrig geschraubt, gebohrt, verpackt, geklebt und gefaltet. An einem Platz in der Mitte sitzt Torsten Schmidt. Vor ihm liegt ein Stapel Pappstreifen. Nach und nach nimmt er einen, legt ihn in eine Schablone vor sich und befestigt mit einem Kleberoller vorsichtig zwei Klebestreifen am unteren Rand. Aus einer Kiste nimmt er einen goldenen Schoko-Hasen. Fachmännisch schüttelt er ihn am Ohr. Horcht. Kaputt. Der kommt in eine Kiste mit Ausschussware. Der nächste Hohlkörper-Hase ist unversehrt. Er wird auf die Mitte des Pappstreifens gesetzt. Dann klebt er die Enden des Streifens zusammen und legt das entstandene Präsent zu den vielen anderen in eine Kiste.

Torsten Schmidt ist Mitarbeiter des Christlichen Jugenddorfwerk Deutschlands e.V. (CJD). Acht Stunden täglich arbeitet er in den Erfurter Werkstätten und erledigt dort vielfältige Aufgaben: Er packt Sani-Taschen, konfektioniert Weihnachts- und Ostergeschenke, isoliert Kabel oder tauscht Schrauben aus. Mit seinen Kollegen versteht er sich super. Während der Arbeit schäkert er mit ihnen, fordert aber auch mal ruhig und bestimmt zur Räson auf. Dann sagt er zu seiner Arbeitskollegin, dass sie weiterarbeiten soll. Hans-Jürgen Zidak ist Teamleiter in der Montagehalle und kennt seine Kollegen gut. Er weiß: „Torsten lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, egal wie stressig die Arbeit ist.“

Dass Torsten Schmidt „Trisomie 21“ hat, war unmittelbar nach seiner Geburt nicht offensichtlich. Erst nach einem halben Jahr stellten die Ärzte die Diagnose: Down-Syndrom. Damals eine Hiobsbotschaft für Mutter Iris. Bis dato hatte sie noch nie davon gehört und war im ersten Moment verzweifelt. Sie brauchte eine Weile, um die Nachricht zu verdauen. Doch schnell traf die Alleinerziehende die Entscheidung ihres Lebens und beschloss, ihren Sohn so zu akzeptieren, wie er ist – mit all seinen Ecken und Kanten. So wie jede Mutter ihr Kind liebt.

Als Torsten Schmidt elf Monate alt ist, zieht die zweifache Mutter mit ihren Kindern nach Erfurt und für die Familie beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Schnell finden sie Freunde. Und zufrieden stellt die damals junge Mutter fest, dass ihr kleiner Lebemann unter den Kindern sehr beliebt ist. Sie fängt an, offen über Trisomie 21 zu sprechen; merkt auch, dass ihr Jüngster gar nicht auf die befürchtete Ablehnung stößt. Im Gegenteil: Er schafft es, mit seiner einfühlsamen Art, die Menschen zu begeistern. Iris Schmidt bekommt einmal von einer Ärztin gesagt: „Torsten hat die Gabe, Menschen mit seinen blauen Augen in seinen Bann zu ziehen.“ Das beweist der sympathische junge Mann immer wieder aufs Neue. Durch seine aufgeschlossene Art vergrößert sich der Freundes- und Bekanntenkreis der Familie stetig.

Torsten Schmidt hat sich seine Hobbys schon immer selbst gesucht. Er schwimmt gern und auch das Eislaufen liebt er; Zuhause trainiert er mit seinen Hanteln. Er achtet auf seine Ernährung und ist, was seine Kleidung angeht, sehr eitel. Farblich muss alles zusammenpassen; gekauft wird nur beim Lieblingshändler. Arbeits- und Freizeitkleidung werden strikt getrennt. Ordnung ist dem Hasselhoff-Fan allgemein sehr wichtig. Auf Arbeit nutzt der engagierte Mittdreißiger jedes Jahr mindestens eines der Angebote aus dem Bildungskatalog des CJD. Er will in jeglicher Hinsicht fit bleiben.

Für Mutter Iris Schmidt ist klar: „Für mich ist Torsten ein Geschenk.“ In Watte hat sie ihn trotzdem nie gepackt. Anderen Eltern möchte sie die Angst nehmen, ein Kind mit Down-Syndrom durchs Leben zu begleiten. „Der liebe Gott hat sich etwas dabei gedacht. Er will uns nicht bestrafen“, betont die selbstbewusste Frau. Denn die Diagnose „Trisomie 21“ soll nicht als Urteil über den Menschen dahinter dienen. Vorurteile gelangen viel zu schnell in die Köpfe. Dabei lässt sich keiner dieser Menschen einfach klassifizieren oder „in eine Schublade stecken“. Sie meistern ihren Alltag, schließen Freundschaften, treffen eigene Entscheidungen, verdienen eigenes Geld und sind stur, wenn sie meinen, stur sein zu müssen – wie jeder andere auch. Lässt man ihnen den benötigten Freiraum, entwickeln sich vielschichtige selbstständige Persönlichkeiten – mit eigener Meinung, eigenen Interessen und dem Mut zu handeln. Torsten Schmidt ist da nur ein Beispiel von vielen. Vorurteile können nur abgebaut werden, indem jeder einzelne seine Denkmuster bezüglich Etikettierungen kritisch hinterfragt. Das sieht auch Iris Schmidt so: „Behindert ist man nicht. Man wird von der Gesellschaft behindert.“

Auf Arbeit erlebt man Torsten Schmidt auch als Gentleman. Er ist der, der die Frauen liebt. Sein Herz verschenkt hat er aber nur an eine: Janine. An seiner Spindtür hängt ein Foto von ihr. Vor längerer Zeit lernten sie sich bei der Arbeit kennen. Seitdem verbringen sie nicht nur die Pausen zusammen. „Ich liebe meine Freundin“, betont der lebenslustige junge Mann. Das beweist er ihr mit Briefen, Gesten oder kleinen Überraschungen. Zum Beispiel dann, wenn er sich für Janine und deren Familie hinter den Grill stellt.

Text: Marie Neubauer / 21.03.2017

Hintergrund-Info

Das Erbgut jedes Menschen liegt auf 23 Chromosomenpaare verteilt vor. Bei „Trisomie 21“ (dem sogenannten „Down-Syndrom“) ist das 21. Chromosom dreifach vorhanden. Das führt zu einem veränderten optischen äußeren Erscheinungsbild, mitunter auch zu Organ-Störungen im Herz- oder Magen-Darm-Bereich. Die geistige Entwicklung erfolgt bei Menschen mit dieser Diagnose verzögert.

"Trisomie 21" ist eine der in Deutschland am häufigsten auftretenden genetischen Erkrankungen. Statistisch gesehen kommt bei etwa 700 Geburten ein Baby mit Down-Syndrom zu Welt. Mittlerweile kann mit einem Bluttest (Pränataldiagnostik) ab der neunten Schwangerschaftswoche mit hoher Wahrscheinlichkeit bestimmt werden, ob eine Veränderung der Chromosomen vorliegt.

Der Welt-Down-Syndrom-Tag findet seit 2006 jährlich am 21. März statt. An diesem Tag werden weltweit Veranstaltungen organisiert, die das öffentliche Bewusstsein für die Thematik des Down-Syndroms steigern sollen.